„Euer Führer ist Christus“ – das Rosenkranzfest am 7. Oktober 1938 in Zeitraffer
8 Uhr: Kardinal Theodor Innitzer, der bei der Rosenkranz-Andacht am Abend dieses 7. Oktober anwesend sein wird, hat an diesem Herz-Jesu-Freitag seine Ansprache längst fertig. Im Gegensatz zu mancher späterer Meldung wird er nicht spontan das Wort ergreifen, sondern gut vorbereitet sein. Der Kardinal will ausdrücklich Stellung nehmen und den Jugendlichen Mut machen. Er weiß aber an diesem Morgen noch nicht, wie der Abend verlaufen wird.
12 Uhr: Acht Stunden vor Beginn der Feier weiß am 7. Oktober 1938 eigentlich niemand genau, wie viele Jugendliche um 20 Uhr in den Stephansdom kommen werden. „Plakate ließen wir 200 Stück drucken und sandten sie an alle Pfarren. Eine ganze Reihe dieser Plakate kam nicht an“, schrieb Jugendseelsorger und Domvikar Martin Stur später in seinem Bericht über die Ereignisse rund um die Rosenkranz-Feier. Der Wortlaut des Plakats lautet: „Katholische Jugend! Der Bischof ruft dich zur Feierstunde im hohen Dom zu St. Stephan am 7. Oktober 1938, 20 Uhr.“ Verantwortlich war Martin Stur. Weitere Propaganda und Werbung geschah mündlich durch die Seelsorger. Eine Weisung bezüglich einer Einheitskleidung erging vom Jugendreferat aus nicht. Jedes verbandsmäßige Auftreten wurde absolut vermieden. Da man sich darüber im Klaren war, dass die Nationalsozialisten damit keine Freude haben und sie womöglich verhindern würden, hat man keine schriftlichen Einladungen versandt, man vermied auch telefonische Benachrichtigungen. Unter den vielen Helfern: 20 junge Burschen, die ein Fahrrad besaßen, unter ihnen Norbert Ortel, fuhren mit der Botschaft „Am 7. Oktober im Dom“ in 10 bis 12 Pfarren. Auch im Diözesanblatt konnte man nur eine kleine Notiz lesen: „Diese Feierstunde wird den besten unserer Jugendlichen für das kommende Arbeitsjahr Ansporn geben und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit wachrufen. Der Dom zu St. Stephan und die Anwesenheit des Bischofs werden gerade in den jetzigen harten Tagen unserer Jugend Arbeitsfreude und Bekennermut geben.“
Ab 18 Uhr: Aus ganz Wien und Umgebung machen sich Jugendliche auf den Weg in den Stephansdom. Spätere Schätzungen sprechen von 7.000 und mehr jungen Mädchen und Burschen, die dem Aufruf gefolgt waren.
19.45 Uhr: Die Jugendseelsorger versammeln sich in der unteren Sakristei des Domes. Der Dom füllt sich mehr und mehr. Für Stur herrscht an diesem Tag Hochspannung: „Wir rechneten an sich mit höchstens 1.500 bis 2.000 Jugendlichen. Immerhin ließen wir die Andacht in einer Auflage von 2.500 Stück drucken. Sie waren zu wenig. Unserer Schätzung nach kam eine Predigt von der Kanzel aus nicht in Frage, da bis zur Kanzel niemand stehen würde.“ Daher lässt Stur eine Art Kanzel vorne neben dem Altar aufstellen. „Als wir die große Zahl der Teilnehmer sahen, wurde beschlossen, von der echten Kanzel zu sprechen“, erinnerte sich Stur.
20.00 Uhr: Mehr als 7.000 Jugendliche singen beim Einzug des Kardinals „Ein Haus voll Glorie schauet!“
20.15 Uhr: Während der Rosenkranz-Andacht kommt Stur der Gedanke, es könnte, wenn die Scharen den Dom verlassen und nicht sofort heimgingen, zu Verkehrsbehinderungen und daher zum Eingreifen der Polizei kommen. Stur: „Daher beschloss ich, nach der Andacht ausdrücklich aufzufordern, alle sollten rasch und ohne viel Aufsehen sofort heimgehen.“ Die Feier selbst nahm schließlich einen unerwarteten Verlauf: Überwältigt von der großen Zahl junger Menschen eilt Kardinal Innitzer (entgegen der Planung) mit Infel und Stab zur Domkanzel.
20.30 Uhr: Es sind bewegende und programmatische Sätze, die Kardinal Innitzer der Jugend mitgibt. „Steht treu zu eurer Pfarre, eurem Pfarrer und all seinen Mitarbeitern […] und lebt mit ihnen in einer lebendigen Pfarrgemeinde“, ruft Innitzer den Jugendlichen zu. „Meine liebe katholische Jugend Wiens, wir wollen gerade jetzt in dieser Zeit umso fester und standhafter unseren Glauben bekennen, uns zu Christus bekennen, unserem Führer, unserem König und zu seiner Kirche. […] Zeigt, dass ihr euren Glauben hochhaltet, indem ihr für den Glauben werbt, auch andere zu beeinflussen sucht in diesem guten höchsten Sinn.“ Noch während der Predigt Innitzers flüstert Martin Stur einem seiner Mitbrüder am Altar zu: „Der Kardinal predigt! Jetzt ist alles aus!“ Das Christus-Bekenntnis Innitzers gipfelt in den Worten: „Einer ist euer Führer, euer Führer ist Christus, wenn ihr ihm die Treue haltet, werdet ihr niemals verloren gehen.“ Am Schluss der Rosenkranz-Feier wird das Lied „Lobt froh den Herren“ zwei Mal durchgesungen, während der Kardinal segnend durch die Kirchenschiffe geht. Da kommt die Meldung, dass die Hitlerjugend an den Toren des Domes stehe. Stur geht zur improvisierten Kanzel, deutet zur Orgel und sagt nur mehr „Achtung, Achtung“. Die Orgel setzt für einige Sekunden aus, Alois Holzhacker, Diözesansekretär für die männliche Jugend, zieht alle Register. Weitere Worte gehen am Orgelspiel unter, Holzhacker greift schwungvoll in die Tasten und spielt: „Auf zum Schwure, Volk und Land …“ Stur breitet hilflos die Arme aus.
20.55 Uhr: In geradezu unheimlicher Ordnung und Disziplin strömen Tausende singend in Richtung Riesentor. Es sind noch zweitausend oder dreitausend junge Menschen mit ihren Seelsorgern im Dom, alle im hinteren Drittel. Plötzlich klingt in den Dom herein aus einer Ecke des Stephansplatzes ein mageres, vielleicht von fünfzig oder hundert Stimmen getragenes „Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil!“ Wolfgang Müller-Hartburg ruft halblaut in Richtung Riesentor: „Ruhig bleiben, nicht provozieren lassen.“ Und wie ein Lauffeuer wird diese Parole weitergegeben, um einige Sekunden zu spät, wie sich sofort zeigt: „Auf zum Schwure, Volk und Land, heb zum Himmel Herz und Hand …“ Der ganze Stephansplatz ist ein einziger feierlicher Chorgesang tausender junger Menschen mit erhobener Schwurhand. Bei dem Lied „Auf zum Schwure“ klingt eine österreichisch-patriotische Note mit. Fünf Tage später, am 13. Oktober, lässt Gauleiter Bürckel bei der Kundgebung gegen Kardinal Innitzer keine Zweifel aufkommen: „Wir dulden […] nicht, dass gewissenlose Hetzer den jämmerlichen Versuch unternehmen, ihre sogenannten christlichen Österreicher vom deutschen Volk loszubeten. Die Ostmark ist bei Deutschland und wird es immer bleiben.“
21.10 Uhr: Die Vorgänge auf dem Stephansplatz kann Stur nicht überschauen: „Ich kam auch überdies erst dazu, als schon Rufe ausgebracht wurden. Ich habe keinen gehört, der politisch klang. Ich habe keinen Zeugen gefunden, der nicht dasselbe sagt. An Liedern wurde gesungen: ‚Und wenn wir marschieren' und ‚Auf zum Schwure'.“ Die Jugendlichen rufen: „Wir wollen unsern Bischof sehen“, „Wir danken unserm Bischof“, „Es lebe Christus, der König“. Stur hält die Rufe nicht für glücklich. Er läuft, Rochett und Stola am Arm, hin und drängt sich durch die Reihen, indem er laut ruft, die Jugendlichen sollten rasch und ruhig heimgehen. Die Jugendlichen rufen „Ein Volk, ein Reich, ein Bischof“ und „Lieber Bischof sei so nett, zeige dich am Fensterbrett“, erinnerte sich Univ.-Prof. Erwin Ringel, damals Pfarrjugendhelfer in St. Stephan.
21.20 Uhr: Der sichtlich beeindruckte Kardinal Innitzer zeigt sich am Fenster des Erzbischöflichen Palais und deutet den Jugendlichen, nach Hause zu gehen. Neun Burschen werden von der Menge weg von der Polizei verhaftet. Diese Demonstration, dieser kirchliche Widerstand, wird nicht ohne Folgen bleiben: Noch am selben Abend gibt es vor den verschlossenen Toren des erzbischöflichen Palais eine spontane Kundgebung der Nationalsozialisten gegen den Kardinal mit dem Ruf: „Und das im Oktober 1938“. 24 Stunden später, am 8. Oktober, wird die Hitlerjugend um ca. 20 Uhr das Erzbischöfliche Palais stürmen.
Quelle: Erzdiözese Wien/Redaktion der Sonntag, Stefan Kronthaler unter erzdioezese-wien.at, öffnet neues Fenster; Stand: 20.11.2022.